Sechs Fragen an Schubart-Förderpreisträgerin Slata Roschal

Am Samstag, 22. April, wird die Schriftstellerin Slata Roschal mit dem Schubart-Förderpreis der Kreissparkasse Ostalb ausgezeichnet. Den mit 7.500 Euro dotierten Preis erhält sie für ihr 2022 erschienenes Romandebüt „153 Formen des Nichtseins“. Michael Steffel, Leiter der Stadtbibliothek Aalen, befragte die Autorin zu ihrem Buch.

Die Ich-Erzählerin Ksenia in Ihrem preisgekrönten Buch „153 Formen des Nichtseins“ ist vieles gleichzeitig, aber nichts davon so richtig: Sie ist Russin, Deutsche, Jüdin, (Ex-)Zeugin Jehovas, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin … Wie viel von Slata Roschal steckt eigentlich in Ksenia Lindau?
Das werde ich bei fast jeder Lesung gefragt. Die meisten dieser Kategorien treffen auch auf mich zu. Natürlich steckt in der Erzählerin viel von mir, denn ich kann sie nur Dinge erzählen lassen, die ich in irgendeiner Weise selber oder bei anderen Menschen erlebt habe, dazu gehört auch das Erleben in Filmen, Büchern, Internetforen. Ich bin aber nicht Ksenia, weil das gar nicht geht, weil Ksenia eine fiktionale Erzählerin eines literarischen Textes ist, das ist der prinzipielle Unterschied etwa zu einem Essay oder Reisebericht oder wissenschaftlichen Aufsatz. 

Die Autofiktion boomt seit Jahren. Was macht Ihrer Meinung nach den Reiz dieses Genres bei der Leserschaft aus?
Ich weiß, dass „Autofiktion“ gerade populär ist bzw. es ist wohl auch in Mode, als anfangender Autor sein Manuskript sofort zur „Autofiktion“ zu erklären. Ich persönlich bin allergisch auf dieses Wort und glaube nicht, dass es irgendeinen Mehrwert für Leser oder Autor bringt, eher umgekehrt, man macht sich damit die Lektüre und überhaupt den Zugang zu literarischen Texten zu einfach. Vielleicht besteht der Reiz darin, zu „wissen“, dass das, was man gerade liest, auch wirklich „wahr“ ist im Gegensatz zu „unwahren“ Romanen, also sich in der Realität einmal genau so abgespielt hat, und das ist natürlich Quatsch, denn an welchen sachlichen Kriterien soll man das festmachen können.

Selbst bei groben biografischen „Fakten“ bräuchten wir eine Autobiografie des Autors, der alles Mögliche von sich behaupten kann, und was erinnerte Gedanken und Gefühle angeht, scheitern wir meist schon an der Analyse der eigenen Innenwelt. 
Was hat Sie dazu bewogen, als Debütroman gerade einen autofiktionalen Roman zu schreiben?

Ich hatte nicht vor, einen autofiktionalen Roman zu schreiben, hoffentlich habe ich es auch nicht gemacht. Sehen Sie, wir kennen uns ja gar nicht persönlich, Sie wissen nichts über mich und glauben, mich gut zu kennen, weil Sie einen Roman von mir gelesen haben. Das ist mir unangenehm, weil die privaten Grenzen verschwimmen, damit muss ich halt leben können, aber es gibt ja auch keine nachvollziehbaren Gründe, das zu glauben. Wenn ein literarisches Buch als Spiegelung meiner privaten Lebensereignisse gelesen werden muss, ist beim Schreiben etwas schief gegangen. Alle Autoren schreiben über das, was sie aus irgendwelchen Kontexten kennen, anders geht es gar nicht. Ich könnte natürlich ins Archiv gehen und mir auf künstliche Weise irgendwelche historischen Figuren aus den Fingern saugen, aber selbst dann würden diese Figuren das sagen, was ich aus meiner Erfahrung kenne, selbst wenn diese Erfahrung angelesen oder angeeignet ist. Wo ist aber die Grenze zwischen „authentischer“ und „nichtauthentischer“ Erfahrung, zumal nichts Reales einfach 1:1 ins Sprachliche überführt werden kann. Und das, was am Ende als Text herauskommt, ist immer mehr als das, was man wollte. Also wenn es ein guter Text ist, entwickelt er sich selbständig weiter, nimmt Formen an, die gar nicht intendiert waren, es bilden sich viele kleine interne Verzahnungen zwischen Themen, Motiven, Lauten, es entstehen Bezüge zu anderen Texten, die mir gar nicht bewusst waren, und ich lasse die Kontrolle los, laufe höchstens neben dem Text weiter und versuche, im besten Fall, seinem Potential gerecht zu werden.

Als Wissenschaftlerin und Herausgeberin publizieren Sie unter Ihrem bürgerlichen Namen, als Belletristin unter dem Pseudonym Slata Roschal, der Ich-Erzählerin in „153 Formen des Nichtseins“, haben Sie den Namen Ksenia Lindau gegeben. Warum dieses Spiel mit unterschiedlichen Identitäten? Wie wichtig ist Ihnen die Trennung zwischen Ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin und Ihrer schriftstellerischen Tätigkeit?
Das ist völlig normal im Literaturbetrieb, zudem Roschal mein Geburtsname ist. Natürlich wird jede Erzählinstanz und jede Figur einen eigenen Namen bekommen, der zu ihr passt, auch ein „Ich“ in lyrischen Texten ist nicht unbedingt mein „Ich“, und selbst wenn die Erzählerin „Slata Roschal“ hieße, würde es die populäre Interpretation vom autofiktionalen Text verstärken, aber im Grunde völlig bedeutungslos sein. Zurzeit arbeite ich nur als Schriftstellerin und fühle mich als Roschal ganz wohl; außerdem hat es pragmatische Gründe, um das Private und Öffentliche im Alltag zu trennen. 

Ihre „Heldin“ Ksenia hat, so möchte ich es einmal salopp ausdrücken, eine „Patchwork-Identität“, die sich – zumindest teilweise – mit Ihrer eigenen deckt. Wo sehen Sie aus Ihrer Erfahrung das Belastende, wo das Bereichernde einer solchen Identität?
Ich denke, dass Sie und ich, wir alle eine „Patchwork-Identität“ haben, es ist die Frage der Ausmaße und wie sehr man sich damit beschäftigen will oder kann. Auch Menschen, die ganz fest vom eigenen „Deutschsein“ oder „Russischsein“ oder „Mannsein“ oder „Gläubigsein“ überzeugt sind, wissen, dass es ungemütlich wird, sich genauer damit zu beschäftigen. Wir kleben unsere „Identitäten“ stets aus vielen Stückchen zusammen, die Narben, Lücken und Leerstellen ergeben.

„153 Formen des Nichtseins“ ist, wenn auch fiktionalisiert, eine Familiengeschichte. Manche Leserinnen und Leser werden sich bei der Lektüre möglicherweise wiedererkannt haben. Wie stehen eigentlich diese Personen dazu, dass Sie sie als Vorlagen für Personen im Buch verwendet haben und Sie teilweise sehr Privates öffentlich gemacht haben? Auch Dinge, die in den meisten Familien in der Familie bleiben?
Familiengeschichten, die Suche nach eigenen Wurzeln, amüsante Anekdoten über Verwandte, exotische Gerichte und sympathisch-fremde Sitten, ein Spannungsbogen, an dessen Ende die Erzählerin ein Geheimnis auflöst und zu sich selbst findet ... Ich habe ein wenig davon Gebrauch gemacht, weil sich mein Buch auch irgendwie verkaufen muss, aber, ehrlich gesagt, hasse ich das Genre. Wir sollten alle mehr Lyrik lesen!

Slata Roschal wurde 1992 in Sankt Petersburg geboren und kam 1997 mit ihren Eltern nach Deutschland. Nach dem Abitur studierte sie Slawistik, Germanistik und Komparatistik an der Universität Greifswald und promovierte 2021 an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fach Slawistik. Vor dem Erscheinen ihres Debütromans „153 Formen des Nichtseins“ machte sie sich bereits als Lyrikerin und Mitherausgeberin von Anthologien einen Namen und erhielt für ihre Werke zahlreiche Preise und Stipendien.

© Stadt Aalen, 05.04.2023