Stolpersteine in Aalen

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Es gibt Aalener Bürgerinnen und Bürger, die während der nationalsozialistischen Diktatur verfolgt und zum Teil ermordet wurden oder an den Folgen ihrer Verfolgung starben. Einige von ihnen sind noch nicht einmal mehr namentlich in den verschiedenen historischen Werken aufzufinden.

Die Aalener Stolperstein-Initiative recherchiert zu diesem Thema und möchte die Verfolgten und Ermordeten durch jeweils einen entsprechenden „Stolperstein“ würdigen und so dem Vergessen entreißen. Stolpersteine sind 10 x 10 x 10 cm große Betonquader mit einer Messingplatte als Oberfläche, in der Name, Lebens- und Sterbedaten eines Opfers des NS-Regimes einggraviert sind und die vor dem ehemaligen Wohnhaus in den Bürgersteig eingelassen werden.

Die Stolpersteine sind heute das größte, dezentrale Mahnmal der Welt. Es wächst „von unten“ durch das bürgerschaftliche Wirken der Initiativen vor Ort und kann Menschen „stolpern“ lassen, nicht mit den Füßen, sondern mit dem Verstand und dem Gefühl.

Stolpersteine in Aalen

Fanny Kahn
Fanny Kahn (© Karin Richert, Sammlung M. Hafner, P. Maile, privat, Stadtarchiv Aalen, Stadtmessungsamt Aalen)

Fanny Kahn, geb. Kahn, wurde am 7. April 1871 in Rockershausen/Saar geboren. 1908 heiratete sie den Viehhändler Ludwig Kahn aus Aufhausen bei Bopfingen.

Das Ehepaar zog nach Aalen und baute in der damaligen Kocherstraße 10 ein Häuschen mit kleinem Nebengebäude. Ihr Ehemann war Soldat im Ersten Weltkrieg, verstarb aber schon 1919 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Aufhausen beerdigt.

Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten erteilte sie Klavierunterricht und eröffnete in den 20er-Jahren einen Handel mit Korbwaren. Von den Kindern aus der Nachbarschaft wurde sie wegen ihres freundlichen Wesens sehr geschätzt.

Von der Vertreibung und Vernichtung der Juden aus Deutschland während der Nazi-Diktatur war auch Frau Kahn betroffen. Am 14. Juli 1941 wurde sie auf Anordnung der Aalener NSDAP im Zuge des geplanten Massenmordes nach Bopfingen-Oberdorf zwangsumgesiedelt. Dazu musste sie in Aalen Haus und Hausstand in der damaligen Kocherstraße 10 (heute Oesterleinstraße) verkaufen und an ihrem neuen Wohnort in ein 8 qm großes Zimmer der Familie Hilb ziehen. Ein Jahr später, am 20. August 1942, musste die inzwischen 71-jährige Frau Kahn sich im Zuge der Deportationen polizeilich abmelden.

Deportation bedeutete zwangsweisen Transport in die Vernichtungslager des Ostens und bei Grenzübertritt Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Der Transport musste selbst bezahlt werden und das noch vorhandene Vermögen wurde vom deutschen Staat eingezogen. Maximal 100 Reichsmark durften mitgeführt werden.

Am 22. August wurde Frau Kahn von Stuttgart über Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka transportiert. Dort wird sie am 28. oder 29. September 1942 im Alter von 71 Jahren ermordet.

Familie Heilbron
Familie Heilbron (© Karin Richert, Sammlung M. Hafner, P. Maile, privat, Stadtarchiv Aalen, Stadtmessungsamt Aalen)

Wilhelm (Willi) Heilbron wurde am 26. Juli 1904 in Aalen, Bahnhofstraße 18, geboren. Seine Eltern waren der Warenhausbesitzer Eduard Heilbron und dessen Ehefrau Frieda Heilbron. Wilhelm Heilbron war geistig behindert und lebte ab seinem 7. Lebensjahr in der Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal. Die Familie war jüdischen Glaubens. Die Kosten der Anstaltsunterbringung trug der Vater. Am 10. September 1940 wurde Willi Heilbron im Zuge der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ („Aktion T4“) mit 74 anderen Pfleglingen aus der Anstalt abgeholt, nach Grafeneck transportiert und dort am selben Tag ermordet. In den darauf folgenden Tagen (bis 28. November 1940) wurden 249 weitere Pfleglinge nach Grafeneck „verlegt“.

Die Eltern versuchten ab dem 5. September 1940 die Verlegung von Wilhelm Heilbron in „eine andere Anstalt“ zu verhindern. Das wurde ihnen mit Schreiben vom 18. September 1940 verwehrt, Wilhelm war am 10. September 1940 bereits ermordet. Wilhelm Heilbrons Schwester Irene (geboren am 4. Oktober 1907 in Aalen, verheiratete Wartzki), ließ über ihren Anwalt Dr. Goldberg aus Wiesbaden am 7. Mai 1957 im Standesamt Rommelshausen eine Todeserklärung für ihren Bruder anfordern, weil sie als Erbin ihrer Eltern Entschädigungsansprüche geltend machen wollte. Das Standesamt Rommelshausen teilte jedoch auf ein Schreiben von ihr vom 18.03.1957 am 20.03.1957 mit, dass bei ihnen kein entsprechender Eintrag zu finden sei. Die Anstalt Stetten i.R. bestätigte dem Standesamt Rommelshausen den Aufenthalt Willi Heilbrons in Stetten, teilte jedoch mit, dass Willi Heilbron „nach einer Verfügung des Innenministeriums mit einer Anzahl Pfleglinge am 10.09.1940 in eine unbekannte Anstalt verlegt worden sei (Vermutlich Grafeneck). Eine Mitteilung über den Verbleib sei nicht mehr eingegangen.“

Im November 1999 wurden in der „Diakonie Stetten“ drei Gedenksteine mit 330 Namen zum Gedenken an die in Grafeneck Ermordeten enthüllt.

Eduard Heilbron und seine Frau Frieda hatten 1903 in Aalen in der Bahnhofstraße 18 in seinem viergeschossigen Haus das ‚Warenhaus Eduard Heilbron‘ gegründet. Es bot auf zwei Stockwerken Manufakturwaren, Herren- und Damenkonfektion, Wäsche, Kurz-, Weiß- und Wollwaren, Haushaltsartikel, Spielwaren und Geschenkartikel an und beschäftigte durchschnittlich 30 Angestellte.

1931 musste Eduard Heilbron sein Geschäft aufgeben, Eduard und Frieda Heilbron zogen angesichts immer heftiger werdender Verfolgungsmaßnahmen in der Kreisstadt Aalen im Jahr 1931 nach Wiesbaden. Im Aalener Jahrbuch 1984 ist hierzu vermerkt: In der Stadt Aalen hatte die nationalsozialistische Propaganda ihre Judenhetze vor allem auf das Warenhaus Heilbron, Bahnhofstrasse 18, konzentriert [...] 1929 klagte der Chronist der örtlichen NS-Bewegung: „Auch hier beginnt jetzt die Judenfrage ihre traurige Rolle zu spielen. Dass der Warenhausjude Eduard Heilbron und sein schmieriger Schwiegersohn Wartzki jemals in den Mauern unserer Stadt Aufnahme gefunden haben, bleibt eine ewige Schande“.

Das Warenhaus wurde an H. J. Guggenheim und W. Böhm, Firma Wohlwert Staufia GmbH Göppingen verpachtet.

Heilbrons wohnten in Wiesbaden in einer Wohnung in der Parkstraße 13. Im Jahr 1939 waren sie in der Klopstockstraße 2 gemeldet (wo auch 2 Stolpersteine für sie gesetzt wurden). Zuletzt wurden sie von der Gestapo in das „Judenhaus“ Alexandrastraße 6 einquartiert. Eduard Heilbron ist am 30. August 1942 angesichts des bevorstehenden Abtransports nach Treblinka im Alter von 68 Jahren in Wiesbaden an einem Herzinfarkt verstorben. Frieda Heilbron wurde am 01.09.1942 nach Theresienstadt deportiert und am 29.09.1942 von dort weiter nach Treblinka. In Treblinka ist sie dann durch Gas ermordet worden.

Irene Wartzki wohnte mit ihrem Mann Kurt Wartzki, der ebenfalls jüdischen Glaubens war, und ihren beiden Kindern Werner und Inge zunächst in der Bahnhofstraße 18 in Aalen. Sie flohen dann mit insgesamt sechs Kindern über Wiesbaden, Frankreich und Spanien nach Cali, Kolumbien. 1958 zogen Irene und Kurt Wartzki wieder zurück nach Wiesbaden, wo Herr Wartzki 1963 starb, Frau Wartzki kehrte nach Cali zurück und verstarb dort 1997.

Karolina Fürst
Karolina Fürst (© )

Karolina Fürst wurde am 6. Dezember 1901 in Fachsenfeld, Haus Nr. 50, als das siebte von 14 Kindern der Arbeiterfamilie Kaspar und Katharina Fürst geboren. Karolina Fürst war schon früh als lediges Dienstmädchen in verschiedenen Haushalten angestellt. Sie hatte zwei Kinder. Karl wurde im Februar 1924 in Fachsenfeld geboren. Im Juni 1929 ist ihr Sohn Franz in der Stuttgarter Hebammenschule geboren worden. Mit nur zwei Monaten jedoch verstarb Franz im September 1929 im „Graf´schen Kinderheim“ in Ellwangen. Karl hingegen musste weitgehend ohne die Mutter aufwachsen und war schon bald darauf angewiesen, sich als Knecht bei verschiedenen Bauern der Umgebung zu verdingen. Mit 16 Jahren wurde Karl schließlich der Mutter durch jenes NS-Regime beraubt, dem er selbst als Soldat bis Kriegsende zu dienen hatte.

Mit der Diagnose „Hebephrenie“ wurde Karolina Fürst bereits im Mai 1924, drei Monate nach ihrer ersten Entbindung, in die Heilanstalt Schussenried eingewiesen. Im März 1926 wieder entlassen, stellte ein Aalener Oberamtsarzt im Februar 1927 schließlich fest, „sie war vollständig orientiert über Ort und Zeit“. Es folgte während der zweiten Schwangerschaft im Februar 1929 eine weitere Einweisung in die Heilanstalt. Zunächst im April 1929 erneut entlassen, folgte kurz nach der Entbindung des zweiten Sohnes im August 1929 die dritte Einweisung. Fortan sollten für Karolina Fürst elf lange Jahre hinter verschlossenen Türen und getrennt von der Familie folgen.

Das Behindertenheim Grafeneck bei Münsingen wurde von Oktober 1939 bis Januar 1940 zu einer der ersten Tötungsanstalten des Dritten Reiches umfunktioniert. Karolina Fürst wurde durch die Nationalsozialisten am 7. Juni 1940, ebenfalls mit dem Ziel der Ermordung, auf die Schwäbische Alb „verlegt“.

Mehr als 10 000 Menschen aus insgesamt 48 öffentlichen „Heil- und Pflegeanstalten“ in Württemberg, Baden und Bayern waren Opfer dieser bis dahin nie dagewesenen Vernichtungsmaschinerie. Hauptkriterien für die Deportation und Ermordung waren in letzter Instanz ökonomische und finanzielle Kosten-Nutzen-Kriterien. Das Reden und Schreiben von „lebensunwertem Leben“, von „unnützen Essern“ und „Ballastexistenzen“ nahm einen dramatischen und tödlichen Ausgang. 50 Prozent aller Menschen in psychiatrischen Kliniken und Behinderteneinrichtungen wurden binnen eines Jahres in Württemberg und Baden ermordet.

Am Tag ihrer Verlegung, dem 7. Juni 1940, wurde Karolina Fürst in der Gaskammer von Grafeneck umgebracht. Die heute vorliegenden Aktenstücke verschleiern diese Tat mit der Umschreibung „verstorben“. Gegenüber den Angehörigen der zahlreichen Opfer sprechen die Nationalsozialisten vielfach ihr Beileid mit dem Hinweis aus, dass „der überraschende Tod“ sowohl für die Betroffenen als auch die Umwelt eine Erlösung gewesen sei.

Johannes Schneider
Johannes Schneider (© )

Johannes Schneider war das älteste der elf Kinder von Florian Schneider, Konditormeister, und seiner Frau Anna Johanna Kunigunde in Aalen. Zwei seiner Geschwister starben schon bei der Geburt.

Johannes Schneider wurde am 6. Juni 1906 in Coburg geboren. Er lebte mit seiner Frau Katharina und ihren beiden Kindern (Gertrud und Irmgard) in der Beinstraße 22 in Aalen.

Johannes Schneider begab sich kurz nach seiner Schulentlassung im Sommer 1920 auf Wanderschaft und verdiente seinen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft. Im Jahr 1923 kehrt er nach Aalen zurück, wo er bis 1930 ununterbrochen Arbeit fand. Von 1930 bis 1933 war er arbeitslos, fand anschließend Beschäftigung in einer Ziegelei und bis 1937 bei der Firma Kessler in Wasseralfingen.

Von 1926 bis 1933 sang Herr Schneider im (marxistischen) Arbeitergesangverein „Lasallia“ , er war von 1927 bis 1932 Mitglied im „Bund deutscher Freidenker“, von 1931 bis 1933 Mitglied in der „Roten Hilfe“, von 1932 bis 1933 in der KPD sowie dem „Kampfbund gegen den Faschismus“.

Diese oppositionellen Aktivitäten führten dazu, dass Johannes Schneider nach der „Machtergreifung der Nationalsozialisten“ am 11. März 1933, wie die „Kocher-Zeitung“ berichtete, mit sieben weiteren Gleichgesinnten in „Schutzhaft“ genommen und anschließend im KZ Heuberg inhaftiert wurde. Das dortige KZ war als eines der ersten Lager auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Heuberg bei Stetten am Kalten Markt für die Gefangenen aus dem süddeutschen Raum errichtet worden. Seine Inhaftierung dauerte bis zum 11. Mai 1933.

Auch Vater Florian Schneider wurde wenige Tage nach seinem Sohn verhaftet, auf den Heuberg verschleppt und erst am 12. September 1933 wieder entlassen.

Am 20. Mai 1937 wurde Johannes Schneider erneut festgenommen und mit den Kollegen Peter Kaspar, August Hirsch und Otto Sauter vor dem Volksgerichtshof Berlin angeklagt. Ihnen wurde zur Last gelegt, die verbotene KPD wieder aufzubauen und sich dadurch hoch- und landesverräterisch verhalten zu haben. Am 26. Oktober 1938 wurde Peter Kasper dafür zum Tode verurteilt, August Hirsch zu 12 Jahren, Johannes Schneider zu 5 Jahren und Otto Sauter zu 2 Jahren Zuchthaus.

Strafbeginn für Johannes Schneider war der 26. Oktober. Er kam über das Zuchthaus Ludwigsburg, Zweiganstalt Hohenasperg, am 11. November 1938 in das Strafgefängnis Rottenburg (Neckar). Von dort wurde er mit dem Ende seiner Strafe am 26. Mai 1942 auf „Ersuchen“ der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Stuttgart zur „Prüfung der Schutzhaftfrage“ in das Polizeigefängnis II, Stuttgart, überstellt.

Obwohl Herr Schneider entsprechend dem Urteil des Volksgerichtshofes seine Gefängnisstrafe ‚verbüßt‘ hatte, wurde er am 2. Juni 1942 zum Polizeigefängnis Welzheim transportiert, am 10. Juni dann nach Dachau überstellt und am 7. August 1942 ins KZ Neuengamme bei Hamburg eingeliefert. Dort verstarb Johannes Schneider am 21. März 1943 um 6.30 Uhr - Todesursache: Versagen von Herz und Kreislauf bei Lungenentzündung - im Alter von 36 Jahren.

Familie Pappenheimer
Familie Pappenheimer (© )

Heinz und Ida Ilse Pappenheimer mit Ruth und Siegfried

Über mehrere Generationen wohnten Pappenheimer in Oberdorf am Ipf. Moritz Pappenheimer, geboren am 7. Juli 1869, zog 1892 nach Nördlingen. 1894 heiratete er Mathilde Holzer aus Stein am Kocher. Am 14. März 1900 kam der Sohn Heinrich zur Welt. Moritz führte ein Textilgeschäft in der Schrannenstraße 2 in Nördlingen, wo die Familie auch wohnte. Er gründete ein weiteres Textilgeschäft in Aalen, das sein Sohn Heinrich im Oktober 1924 übernahm. Das Geschäft befand sich in gemieteten Räumen in der Bahnhofstraße 23. Im Dezember 1924 heiratete Heinrich Ida Ilse Grünewald aus Nastätten/Taunus. Heinrich verwendete von da an meist den Vornamen Heinz. Das Ehepaar wohnte zunächst in der Bahnhofstraße 19, dann ab September 1927 in der Bahnhofstraße 51. Am 21. Oktober 1925 wurde Siegfried und am 3. Juni 1928 Ruth geboren. Die Familie Pappenheimer in Aalen gehörte zur jüdischen Gemeinde in Schwäbisch Gmünd.

Ab 1933 waren Juden in Deutschland zunehmenden Anfeindungen und Ausgrenzungen ausgesetzt, die sich durch die Nürnberger Gesetze von 1935 und den nachfolgenden Verordnungen zunehmend verschärften. Juden sollten auswandern, jüdisches Vermögen sollte „arisiert“ werden. Das Wohnhaus der Familie Pappenheimer wurde 1935 verkauft, sie konnten dort aber weiter wohnen. Auch jüdische Kinder hatten zu leiden. So durfte Siegfried ab Frühjahr 1936 das Gymnasium nicht mehr besuchen und Ruth wurde 1937 von der Volksschule ausgeschlossen. Auf Druck der NSDAP wurde am 9. August 1938 das Textil- und Damenkonfektionsgeschäft „Moritz Pappenheimer“ verkauft. Nach dem Novemberpogrom wurde Heinz Pappenheimer am 12. November ins KZ Dachau verschleppt. Erst am 5. Januar wurde er entlassen, nachdem er glaubhaft machen konnte, dass er aus Deutschland auswandern wird. Nach dem Erwerb eines Palästina-Zertifikats und Bezahlung der Reichsfluchtsteuer wurden die Vorbereitungen zur Ausreise nach Haifa/Palästina getroffen. Das Ehepaar verließ im Februar 1939 Aalen und wohnte mit der 10-jährigen Tochter Ruth bis zur Ausreise bei Verwandten in Frankfurt/Main. Am 5. August 1939 traten sie von Genua aus die Schiffsreise nach Haifa an.

Siegfried wurde im April 1936 in die jüdische Wilhelmspflege nach Esslingen geschickt. Nach kurzem Aufenthalt wechselte er auf das deutsch-jüdische Internat nach Recco (Italien). Als dieses geschlossen wurde, besuchte er das katholische Internat in Treviglio bei Mailand. Aufgrund der politischen Entwicklungen in Italien konnte er aber auch dort nicht bleiben. Deshalb kam er im Oktober 1938 nach Aalen zurück. Nun sollte für den inzwischen 13-Jährigen die Bar-Mitzwa-Feier stattfinden. Zu dieser Zeit erfolgte aber die Verschleppung seines Vaters ins KZ Dachau. Ab 26. Januar 1939 war Siegfried im jüdischen Kinderheim der Flersheim-Sichel-Stiftung in Frankfurt/Main untergebracht. Am 5. Juni 1939 reiste er von dort mit einem Kindertransport nach London aus. Anfang 1940 kam er dann auf Veranlassung seiner Eltern per Schiff nach Haifa und war somit wieder vereint mit seiner Familie.

Der Firmengründer Moritz Pappenheimer musste im Januar 1939 sein Wohnhaus in Nördlingen verkaufen. Er zog im Juli 1939 nach Frankfurt/Main, wo er sich bis zum Sommer 1941 aufhielt. Im September 1941 floh er über Lissabon nach Havanna/Kuba. Im Dezember 1945 konnte er in die USA einreisen. Am 12. September 1948 starb er in New York.

Hommage der Abitursklasse 1914 an ihre Lehrer des Realgymnasiums Aalen
Hommage der Abitursklasse 1914 an ihre Lehrer des Realgymnasiums Aalen (© )

Am 10. November 1896 wurde Otto Julius Norbert Tugendhat in Großeislingen bei Göppingen (Württ.) als Sohn des aus Galizien stammenden Juden Bruno (Bronislaw) Arthur Tugendhat und der aus Ungarn stammenden Jüdin Friedericke Geiringer geboren, die in Großeislingen am 3. November 1895 geheiratet hatten.

Die Elternfamilie hatte es im Zuge einer Phase der gesellschaftlichen Gleichberechtigung zu Wohlstand gebracht und Vater Bruno übernahm 1895 die technische Leitung der Papierfabrik Fleischer in Großeislingen. Er war, wie viele jüdische Persönlichkeiten, mit seiner Familie zum katholischen Glauben konvertiert, da dieses damals in leitenden Berufen erwartet wurde.

Mit drei Jahren kam Norbert mit seiner Familie nach Unterkochen, da sein Vater Direktor der Papierfabrik Unterkochen wurde. Seit 1904 war Norbert nachweislich katholischer Schüler am Reformrealgymnasium Aalen (dem heutigen Schubart - Gymnasium). Er war hier einer der ersten Schüler, der zusammen mit seinen sechs Mitschülern das 1. Maturum 1914 (Abitur) erfolgreich bestand. Ein Mitschüler beschreibt ihn in seinen Erinnerungen als Schüler „voll Seelengüte und Klugheit, der ein Könner auf dem Gebiete der Papiertechnik und ein geborener Organisator“ war. „Er hat uns schon damals gesagt, dass eine richtige Organisation, heute würde man sagen Arbeitsvorbereitung, für jede wissenschaftliche und technische Leistung die Grundlage darstelle.“ Im Protokoll der Reifeprüfung vom 15. Juli 1914 wird erwähnt, dass einer (Anmerkung der Redaktion: vermutlich Norbert) beabsichtigt gewerblicher Papiermacher zu werden. Der kurz darauf beginnende 1. Weltkrieg hat diese Planung stark beeinflusst, da Norbert Soldat wurde und für sein Vaterland in den Krieg zog. Während des Krieges erlitt er eine schwere Kopfverletzung, an deren Folgen er lebenslang litt. Nach 1918 ist sein Lebensweg offen. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs der Naziopfer wird Berlin als Wohnort angegeben, und erst 1923 ist nachweislich Hamburg sein Wohnsitz. Hier wurde Anna am 19. Mai 1923 seine Ehefrau.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurden sie damit konfrontiert „Juden“ zu sein. Um der Verfolgung zu entgehen emigrierten sie am 1. Januar 1939 nach Frankreich, wo sie wohl in Paris wohnten. Dort wurde er verhaftet und am 31. Juli 1944 im Konvoi 77 von Drancy zusammen mit seiner Frau nach Auschwitz deportiert. Dort erhielt er am 3. August 1944 die KZ -Nr. B3941. Seine Frau wurde in Auschwitz ermordet. Norbert Tugendhat kam am 28. Oktober 1944 ins KZ - Lager Stutthof (Registrierungsnummer 100353) bei Danzig und von dort im November 1944 ins Außenlager Hailfingen/ Tailfingen bei Rottenburg (Registrierungsnummer 40967), einem Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof. Bereits am 2. Dezember 1944 war Norbert Tugendhat tot - erschossen (fiktive Todesursache Herzmuskelschwäche) und wurde im Krematorium im Reutlinger Friedhof eingeäschert. Norbert Tugendhat, wurde im Alter von 48 Jahren ermordet.

Während Norbert Tugendhat am Gymnasium von 1904 bis 1914 eine „gute“ Zeit erleben durfte, ging es seinen jüngeren Halbschwestern Anneliese, Annemarie und Liselotte nach der Machtergreifung 1933 wesentlich schlechter, da sie als „Halbjuden“ drangsaliert und gedemütigt wurden. Nur durch den Schutz ihrer „arischen“ Mutter wurden sie von weiteren „Maßnahmen“ verschont und konnten so das 3. Reich überleben.

Karl Schiele (blaues Kreuz) mit seinen SHW-Kollegen
Karl Schiele (blaues Kreuz) mit seinen SHW-Kollegen (© )

Karl Schiele wurde am 8. Januar 1898 in Aalen-Hofherrnweiler als achtes Kind des Gipsers Johann Christian aus Hofherrnweiler und Johanna Barbara Schiele geboren. Von den insgesamt dreizehn Kindern starben sieben noch im Säuglings- oder frühen Kinderalter. Seine Gipserlehre musste Karl Schiele, bedingt durch den Ersten Weltkrieg, abbrechen. Nach dem Krieg arbeitete er bei den Schwäbischen Hüttenwerken in Wasseralfingen, wo er eine Ausbildung als Heizer machte. 1923 heiratete er in Unterrombach Maria Ertinghorn. Das Ehepaar hatte ein Kind Maria.

Karl Schiele war ein vielseitig interessierter und aktiver Mensch. Als Sportfan war er Mitglied der TSG Hofherrnweiler, weiterhin des Metallarbeiterverbands, der Roten Hilfe und der KPD. Kaum war die NSDAP an der Macht, wurde er zusammen mit einer großen Anzahl anderer Mitbürger aus Hofherrnweiler und aus ganz Aalen in einer Massenverhaftung am 20. März 1933 in eines der ersten KZ, das „Schutzhaftlager“ Heuberg, verschleppt und blieb dort bis 11. April 1933 der Willkür der Bewacher ausgesetzt. So sollte in den ersten Wochen der Naziherrschaft speziell der Widerstandswillen der Arbeiterparteien SPD und KPD und ihrer Anhänger gebrochen werden. Unter anderen waren dort auch prominente Politiker wie Kurt Schumacher gefangen. 

Nachdem die Nazis 1939 den zweiten Weltkrieg begonnen hatten, war Karl Schiele trotz der am eigenen Leib erfahrenen Willkür unerschrocken genug, sich im Rundfunk bei Auslandssendern zu informieren. Durch die unter Folter erpresste Aussage eines Sportskameraden erfuhr davon die Geheime Staatspolizei, die Sonderpolizei der Nazis zur Unterdrückung jeglicher Opposition. Am 6. März 1940 wurde Karl Schiele von seiner Arbeitsstelle bei den Schwäbischen Hüttenwerken weg von der Gestapo verhaftet. Am 27. April 1940 wurde er vom Sondergericht Stuttgart wegen „Rundfunkverbrechen“ zu einem Jahr und acht Monaten Haft verurteilt. Seine im gleichen Prozess mitangeklagte Frau Maria sollte zur Aussage gegen ihren Mann gezwungen werden, aber sie weigerte sich und wurde zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt und in Gotteszell inhaftiert. Seit 1940 waren die Anklagen wegen solcher „Rundfunkverbrechen“ im ganzen Deutschen Reich sprungartig in die Höhe geschnellt und die Sondergerichte, eine NS-Paralleljustiz neben den üblichen Gerichten, war eigens für derartige „staatsfeindliche“ Delikte ins Leben gerufen worden.

Im November 1940 wurde Karl Schiele vom Zuchthaus Ludwigsburg in eines der berüchtigten „Moorlager“, ins Lager Aschendorfermoor/Emsland, verlegt, nachdem er in einer ärztlichen Untersuchung als „moorfähig“ klassifiziert worden war. Diese Eingruppierung sollte sich im Nachhinein als sein Todesurteil herausstellen. Denn nach seiner Haftentlassung im Juni 1942, sieben Monate später als im Urteil angegeben, war er todkrank. Damit Karl Schiele pro Forma seine Arbeitstelle wieder antreten konnte, arbeiteten seine Arbeitskollegen bei den SHW vier Wochen lang für ihn mit, aber tatsächlich war er völlig arbeitsunfähig. Seine Frau schilderte diese Zeit so: „Als Karl Schiele am 6. März 1940 von seiner Arbeitsstelle aus verhaftet wurde, erfreute er sich nachweislich voller Gesundheit. Aber durch die unmenschlichen Strapazen und Entbehrungen, Kälte, Hunger und übermenschliche Arbeitsanstrengungen, erkrankte er an Lungentuberkulose, magerte ab zum Skelett. Von der Lagerverwaltung als völlig unbrauchbares Subjekt bezeichnet, wurde er völlig mittellos entlassen. Todkrank, nach siebenmonatiger Mehrverbüßung, kam er nach Hause. Trotz aller Bemühungen verbesserte sich sein Zustand nicht mehr und am 3. April 1944 verstarb er in der Heilstätte Wilhelmsstift Isny...“.

Karl Schieles Frau erwirkte nach Kriegsende die Aufhebung des Urteils und die amtliche Anerkennung von Karl Schiele als politisch Verfolgter des Nazi-Regimes. Angesichts der dürftigen Entschädigung und Rente musste sie in den Nachkriegsjahren in sehr ärmlichen Verhältnissen leben und sich mit Putzarbeiten über Wasser halten.

Auf dem Bild ist Maria Theresia Angstenberger zu sehen.
Maria Theresia Angstenberger (© Stadt Aalen)

Das Leben der Maria Angstenberger, geb. am 13. März 1927, verlief zunächst wie das vieler Kinder in einer bäuerlich geprägten Umgebung. Neben der Schule war die Mitarbeit in der elterlichen Landwirtschaft ein Muss. Ihr Heimatort Treppach - ein Teilort von Wasseralfingen - bestand überwiegend aus landwirtschaftlichen Anwe­sen und einer Gastwirtschaft.

Nach Beendigung der Schulzeit arbeitete Maria verstärkt auf dem Hof, zumal ihr Vater an Krebs erkrankt war. Von Zeitzeugen wird Maria als biederes, aber nettes, lebensfrohes Mädchen beschrieben.
Zur Unterstützung bei der Feldarbeit kam 1943 auch ein polnischstämmiger „Knecht" (so die Zeitzeugen) auf den Hof. Maria und dieser „Knecht" namens Boguslaw (August) Drazek arbeiteten täglich zusammen. Mit der Zeit entwickelte sich, wie Zeitzeugen berichten, eine Freundschaft, eine ,Beziehung' zwischen den beiden jungen Leuten. Sie begingen das „Verbrechen Liebe" (Thomas Muggenthaler). Seit 1940 war der „geschlecht­liche Umgang" von Deutschen mit polnischen Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen aus rasseideo­logischen Gründen verboten und mit harten Strafen bedroht. Frauen drohte KZ-Haft, polnischen Männern die Todesstrafe.

Maria wurde schwanger - die Schwangerschaft wurde verheimlicht. Zur Entbindung ging die 16-jährige Maria nach Ellwangen in die Geburtsklinik „Annaheim", offensichtlich war dies eine Vorsichtsmaßnahme.

Am 21. Dezember 1943 wurde das Kind geboren, ein Junge, der auf den Namen Günter getauft wurde. Am 6. Januar 1944 verließ Maria - offensichtlich ohne ihren Sohn - die Klinik. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof in Hofen erwarteten sie Polizisten des Polizeipostens Wasseralfingen und nahmen sie mit zum Verhör. Maria versuchte noch einen deutschen Soldaten als Vater des Kindes zu benennen, aber die Polizei in Wasseralfingen war bereits bestens informiert über die mutmaßliche Vaterschaft. Ganz besonders „engagierte" sich der Leiter der Polizeistelle, Alfred Dizinger, bei den Nach­forschungen über die Vaterschaft des Kindes.

Nach eineinhalbstündigem Verhör konnte Maria nach Hause gehen, doch bereits am 13. Januar 1944 wurde sie nach Stuttgart in das berüchtigte „Hotel Silber", die Gestapo-Zentrale, beordert. Von diesem Ort des staatlichen Terrors kam sie nicht mehr zurück. Zuerst folgte die Inhaftierung im Jugendgefängnis Waiblingen. Nach einigen Wochen erhielt ihre Mutter die Auf­forderung, ihrer Tochter für vier Tage Verpflegung zukom­men zu lassen. Frau Angstenberger folgte diesem „Befehl", fuhr ins Gefängnis, durfte aber ihre Tochter nur kurz sehen. Sprechen durfte sie nicht mit ihr.

Die Hoffnung, bald wieder nach Hause zu dürfen, erfüllte sich nichtl Die Verpflegung sollte für eine Überführung nach Mecklenburg reichen. Dort gab es das „Jugend­schutzlager" Uckermark. In diesem KZ wurden Mädchen und junge Frauen weggeschlossen, deren Lebensweise angeblich eine Bedrohung für das NS-Regime darstellte. Das Jugend-KZ Uckermark war organisatorisch und strukturell mit dem sich in der Nähe befindenden Frauen­KZ Ravensbrück verbunden. Von diesem Jugend-KZ erhielten die Eltern drei Briefe ihrer Tochter. Sie schrieb, wie es ihr geht, aber über eine etwaige Entlassung oder über das, was ihr zur Last gelegt wurde, durfte sie nichts erwähnen. Die Jugendlichen waren den gleichen Schi­kanen und Erniedrigungen ausgesetzt wie die Insassen eines KZs für Erwachsene. Die „Aufnahmeprozedur" fand im Hauptlager in Ravensbrück statt: Den Neuankömmlin­gen wurden alle persönlichen Habseligkeiten abgenommen. Sie bekamen als einzige Kleidungsstücke die gestreifte Häftlingskleidung sowie eine Häftlingsnummer zugeteilt. Ihnen wurden die Köpfe kahlgeschoren und sie mussten sich in entwürdigender Art und Weise völlig nackt den SS-Ärzten zeigen.

Erzieherische Maßnahmen, wie es die NS-Propaganda vorgaukelte, fanden in keiner Weise statt. Der Alltag der Mädchen und Frauen bestand aus Sklavenarbeit, Schikanen (absolutes Sprechverbot, militärischer Drill, körperliche Strafen) und einer völlig unzureichenden Ernährung. Diese sowie die mangelhafte medizinische Versorgung führten zu Unterernährung und vielen Infek­tionskrankheiten. Einige der Gefangenen starben an giftigen Pflanzen, die sie aus Hunger gegessen hatten. Untergebracht waren bis zu einhundert Mädchen und junge Frauen in von der SS bewachten Baracken, von Stacheldraht und Wachtürmen umgeben. Einige der Jugendlichen wurden auch durch unmittelbare Gewaltaktionen wie Erhängen umgebracht oder von Hunden gehetzt und zerfleischt.

Maria Angstenberger überlebte diese Torturen nicht, sie starb am 13. Juni im Alter von 17 Jahren. Am 23. Juni 1944 erreichte die Eltern die Todesnachricht. Die verzweifelten Eltern wollten die Todesursache erfahren: Diphtherie sei es gewesen, so die Antwort aus der Uckermarkl

Der Sohn Günter starb bereits vor seiner Mutter. Im Wasseralfinger Standesamt ist als Todestag der 12. April 1944 vermerkt. Die Todesursache des Säuglings ist nicht bekannt. Eine Augenzeugin berichtete den Angehörigen allerdings, dass das Kind wenige Tage vor seinem Tod blau im Gesicht ausgesehen habe. Auch wenn im Fall Günter Angstenbergers genauere Erkenntnisse nicht mehr zu gewinnen waren, zeigen ähnliche Fälle, dass der NS-Staat kein Interesse am Überleben der Kinder von polnischen Zwangsarbeitern hatte, selbst wenn die Mutter Deutsche war.

Das Schicksal Boguslaw Drazeks konnte bisher nicht aufgeklärt werden. Die Zeitzeugen konnten nur sehen, wie er verhaftet und abgeführt wurde. Wie man aber von zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen weiß, wurden „Ostarbeiter" und Kriegsgefangene, denen man „verbotenen Umgang" vorwarf, oft vor den Augen ihrer Arbeitskollegen hingerichtet. Marias Urne wurde auf dem Friedhof in Dewangen im Grab ihrer Großmutter bei­gesetzt.

Marias Angehörige, vor allem ihre Mutter, kämpften noch viele Jahre nach dem Krieg für die gerichtliche Anerkennung des schreienden Unrechts, das ihrer Tochter angetan worden war. Die Begründung für die Verweigerung dieses Anspruchs ist unfassbar schäbig: Maria sei kein Opfer des NS-Regimes gewesen; es hätten sich keine Anhaltspunkte für eine Verfolgung der Tochter der Klägerin durch NS-Gewaltmaßnahmen ergeben (so das Landgericht Stuttgart im Jahr 1966). Diese Haltung des Gerichts zu den Gräueltaten der Nationalsozialisten zeugt auch von einem über den Krieg hinaus nachwirkenden Rassismus. Sie ist geradezu eine Verhöhnung der Opfer - so als ob jemand geradezu selbst schuld sei an seiner eigenen Ermordungl

Auch im Hinblick auf unsere Gegenwart, die nicht frei ist von ,gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit' (Wil­helm Heitmeyer), sollte die Erinnerung an Maria und Günter Angstenberger und Boguslaw Drazek wachgehalten werden.

Auf dem Bild ist Adam Michael Vogt zu sehen.
Adam Michael Vogt (© Stadt Aalen)

Dort, wo sich heute ein Kreisel befindet und der Eingang zur Fußgängerunterführung Schüler zum Schulzentrum im Tal führt, stand einst das Haus des Schuhmachers Adam Vogt. Es ist schon lange vergessen, mehr noch, ein Mantel des kollektiven Schweigens hat sich über die Geschichte dieser ehemaligen Schuhmacherei gelegt. In der Nazizeit widerfuhr dort der Familie Vogt so Traumatisierendes, dass später niemand in der Familie mehr daran rühren wollte, und natürlich erst recht nicht die damaligen örtlichen Nazigrößen und der von ihnen mobilisierte Mob, dessen Zusammenrottung das Ende der einst gut gehenden und anerkannten Schuhmacherei bedeutete und die Familie in Armut stürzte. Erst 60 Jahre später - unter dem Eindruck wieder aufflammender Übergriffe von Neonazis - hat die Tochter und Ordensfrau Elisabeth Vogt gegen Ende ihres Lebens die Kraft gefunden, sich dem damaligen Geschehen zu stellen und ihre Erinnerungen verfasst. In einem Zeitungsbericht von Erwin Hafner in der Schwäbischen
Post und anschließend in einem Aufsatz von Sibylle Schwenk in einer Buchreihe zur Heimatgeschichte sind das damalige Geschehen und das Schicksal von Adam Vogt und seiner Familie erstmals der Öffentlichkeit wieder vorgestellt worden.

Adam Michael Vogt wurde am 20. August 1904 in Adelmannsfelden geboren. Er heiratete Theresia Opferkuch aus Wasseralfingen, machte dort ein Schuhmachergeschäft auf und war bei seinen Mitbürgern seines humorvollen Wesens wegen ein gut gelittener und gern gesehener Mann, der zudem sein Handwerk ver­stand. Dass er und seine Frau den Nazis ablehnend ge­genüberstanden, daraus machten sie keinen Hehl und das war auch für Wasseralfingen, wo die Nazis erst spät Fuß fassen konnten, nichts Ungewöhnliches. Die Tochter Elisabeth schrieb in ihren Lebenserinnerungen darüber: ,,( .. ) dass mein Vater - weniger meine Mutter - nicht mit ernsthaften Konsequenzen seiner ablehnenden Haltung rechnete, zumal er viele der ins Lager der Nationalsozia- listen abgewanderten Leute kannte und mit manchen von ihnen befreundet war( .. ) [und so] rechnete er nicht damit, dass Freunde, Bekannte und Mitbürger für dieses System zu Denunziation und Vernichtung bereit sein könnten."

Zum Verhängnis wurde ihm diese Unbefangenheit und Offenheit erst 1939, als er das jüdische Ehepaar Gustav und Emma Mayer, Besitzer einer Schuhfabrik in Schwäbisch Gmünd, dabei unterstützte, wegen der sich immer mehr zuspitzenden Lage in die USA auszuwandern. Weil die Inhaber der Schuhfabrik mit den Vogts gut befreundet waren, hatte sich Adam Vogt um eine Ausreisegenehmigung für seine Freunde bemüht und die Schiffskarten für sie bezahlt, da die jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen zu dieser Zeit schon nicht mehr frei über ihr Geld verfügen konnten. Zum Dank ließen sie ihm noch kurz vor ihrer Abreise Material aus ihrer Schuhfabrik zukommen, das Adam Vogt aber in seinem eigenen Betrieb nicht verwenden konnte. So blieben die Materialien und Gegenstände einfach eingelagert. Diese Restbestände waren der Vorwand dafür, dass Adam Michael Vogt am 28. November 1939 von der Gestapo verhaftet wurde. Vorausgegangen waren zwei Denunziationen: ,,Die Meldung über dieses ,Judengeschäft' an die Gestapo war von dem Ortsgruppenleiter der SA und früheren Freund meines Vaters, Adolf Hinderer, Wirt des Gasthauses ,Hecht' an der Wilhelmstraße in Wasseralfingen, ausgegangen. ( .. ) Zu dieser Straftat, ,Judenware' eingelagert zu haben, und dem Kontakt mit jüdischen Mitbürgern wie Gustav Mayer und einem Holzhändler aus Oberdorf, dem mein Vater Holzteile abgekauft hatte, kam als weiteres Delikt hinzu, dass im Hause Vogt regelmäßig ausländische Radiosender gehört wurden. Ein tschechischer Mann mit Vornamen Bohuslav war im Zuge der Wohnraumrequirierung ins Haus gekommen. Dass er gezielt als Spion eingewiesen worden war, wurde erst später registriert, als es schon zu spät war. Bohuslav hat brav über das Abhören ausländischer Sender im Hause Vogt bei der Gestapo Bericht erstattet."

Am 30. November rotteten sich SA- und HJ-Leute vor dem Haus der Familie Vogt zusammen und drangen schließlich ein. Elisabeth Vogt schildert dieses schreckliche Ergeignis „Meine Mutter hatte sich schon zurückgezogen, als vor unserem Haus am Marktplatz 20 ein Tumult entstand, die Eingangstüre aufgebrochen wurde und SA-Männer und Hitlerjugend ins Haus eindrangen, auf dem Marktplatz in Sprechchören ,Heraus mit der Judenware' forderten, Geschäft und Privatwohnung durchwühlten und plünderten und die schwangere Frau mit einem zweijährigen Kind auf dem Arm aus dem Haus wiesen. ( ... ) Ein paar Tage [da]vor ( ... ) war mein Vater ( .. ) zum Rathaus der Gemeinde Wasseralfingen bestellt worden. Als er gegen Abend immer noch nicht nach Hause gekommen war, ahnte meine Mutter nichts Gutes. Sie überließ mich einem Kindermädchen und die Gesellen und Lehrlinge in der Schuhmacherwerkstatt sich selber, schloss das Schuhgeschäft ab und ging persönlich zum Rathaus, um sich zu erkundigen. Dort erhielt sie die Auskunft von seiner Verhaftung und seiner Überstellung ans Landgericht Ellwangen. Meine Mutter war zu dieser Zeit schwanger mit meinem Bruder Siegfried, der vier Mo­nate später mit einer schweren Geburtsschädigung zur Welt kam und lebenslang schwerst körperlich und gei­stig behindert war. Dieser Abend und diese Nacht müssen sehr schwer für sie gewesen sein; ein Trauma, über das nicht gesprochen worden ist. ( ... ) Ich erfuhr nur, dass sie sofort am nächsten Morgen mit dem Zug nach Ellwangen gefahren sei, um beim Landgericht vorstellig zu werden. Dort sei sie brüsk abgewiesen worden mit der Bemerkung, dass [ihr Mann] bereits verschickt sei. Sie sei also unverrichteter Dinge zu­rückgekommen und habe Werkstatt und Schuhgeschäft in Gang gehalten. (. .. ) Meine Mutter blieb ohne Nachricht. Nachforschungen waren erfolglos. Werkstatt und Schuhgeschäft konnten nur noch kurze Zeit weiter­geführt werden, weil sie danach beschlagnahmt wor­den sind."

Was mit Adam Michael Vogt nach seiner Verhaftung passiert ist, konnte erst später rekonstruiert werden. Im Fragebogen für vermisste Personen, den der Lan­desausschuss Württemberg-Baden für politisch Verfolgte des Naziregimes aufnahm, sind die wichtigsten Stationen kurz zusammengefasst: ,,Wurde politisch verfolgt -ja - verhaftet am 28.11.39 von der Gestapo - Urteil: Wegen Abhören feindlicher Sender und Kauf von Waren bei Juden - Untersuchungshaft vom 28.11.39 bis 12.12.39 in Ellwangen - Gefängnis vom 13.12.39 bis 18.12.39 in Stuttgart, KZ vom 18.12.39 bis 14.340 in Welzheim." Nach fünfmonatiger Haft kehrte Adam Vogt verstört aus dem KZ zurück, hatte aber unterschreiben müssen, nichts über den KZ-Aufenthalt zu berichten. Kurze Zeit später, einen Tag nach der Geburt seines Sohnes, wurde er plötzlich zu einem Bau - Bataillion eingezogen und an die Ostfront geschickt. Dies geschah entgegen den üblichen Regu­larien, die den Jahrgang 1904 nicht für eine Einberufung vorsahen. Adam Vogt wurde im Januar 1943 als vermisst gemeldet. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gibt als Todes-/Vermisstenort an Rossosch/Sotnitzkaja/ Rossosch Fluss Geb. v. Woronesh.

Nach der Verfolgung ihres Mannes und nach seinem Tod lebte Theresia Vogt in ärmlichen Verhältnissen. Nach Kriegsende versuchte sie, Wiedergutmachung für das erlittene Leid, den wirtschaftlichen Verlust sowie Unterstützung für das behinderte Kind zu erlangen. Noch im Jahr 1946 war der Fall vom Landesausschuss Württemberg-Baden für politisch Verfolgte des Nazi-­Regimes als politische Verfolgung anerkannt worden, wobei sogar darauf verwiesen wurde, dass der Fall ortsbekannt sei. Und noch im Jahr 1947 war Theresia Vogt eine finanzielle Unterstützung wegen der politischen Verfolgung ihres Mannes zugesprochen worden. Aber schon 1949 wurde ihr von der Landesbezirksstelle für Wiedergutmachung in Stuttgart mitgeteilt: ,,Nach den jetzt geltenden Bestimmungen können Sie eine laufende Beihilfe in Zukunft nicht mehr erhalten. Sie gelten nicht als Hinterbliebene eines Opfers der nat.-soz. Gewalt­herrschaft, da Ihr Ehemann in Russland vermisst ist und daher als Kriegsopfer anzusehen ist." Solche Fälle wie der des Adam Vogt wurden nicht mehr als Verfolgung durch nationalsozialistisches Unrecht gewertet. So wurde die Familie ein zweites Mal im Unrecht allein gelassen.

Elisabeth Vogt erinnert sich noch im Alter an das damalige Geschehen „Obwohl ich damals nur etwas mehr als zwei Jahre alt war, hat sich diese Erinnerung an Geschrei, Lärm und Bedrohung tief in mir eingeprägt, so dass sie durch all die Jahre meines Lebens bei verschiedenen Anlässen oder auch ganz plötzlich ohne Vorwarnung auftauchen konnte." Aber sie konnte fast ihr ganzes Leben lang nicht über das Geschehene reden. ,,In der Zwischenzeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es eine Verantwortlichkeit gibt, das Schweigen aufzugeben. Denn nach mir kommt niemand mehr, der das, was geschehen ist, weitergibt; nicht nur als Ehrenrettung für meine Eltern, sondern auch als Beispiel, wie schnell durch Druck, Angst und Bedrohung aus Freunden Verräter und aus normalen Mitbürgern willige Vollstrecker werden können. Am Ende der Nazi-Ära hatte sich ein großes Schweigen ausgebreitet über das, was geschehen war, im Mutigen wie im Versagen. (..) Dieses Vergessen-Wollen ließ viele verstummen. Es blieb etwas Unaussprechliches, an das man nicht rührt und das in einem doch vorhanden bleibt, ob man will oder nicht. Amelie Fried schreibt im Vorwort zu ihrer Fami­liengeschichte: ,Familiengeheimnisse haben eine starke und unberechenbare Wirkung. Die seelischen Ver­letzungen werden weitergegeben, von Generation zu Generation, auch und gerade durch das Schweigen. Ich glaube fest daran, dass nur, indem wir das Schweigen brechen, indem wir fragen und zuhören, diese Verletzungen irgendwann heilen können.' Das Geheimnis der Erlösung und Befreiung heißt nach wie vor Erinne­rung.

Stolperschwellen in Aalen

Auf dem Bild ist die Stolperschwelle in Wasseralfingen zu sehen.
Stolperschwelle in Wasseralfingen (© F. Ludwig)

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Fred Ludwig
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