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Ein Gespräch mit der Schubart-Förderpreisträgerin Nora Krug

Heimat sind Kindheitserinnerungen: Lieder, Landschaften, Leberknödelsuppe

Wenn Nora Krug am Sonntag, 28. Juli 2019 im Aalener Rathaus ihr ausgezeichnetes Werk „Heimat“ vorstellt, geht es nicht um eine klassische Lesung. Das Buch ist ein „kluges, visuell herrlich opulentes Bilderbuch für Erwachsene“, so die Begründung der Schubart-Jury. Es verbindet Texte, Illustrationen, Fotos und Fundstücke“ zu einem „deutschen Familienalbum“, so der Untertitel. Michael Steffel, Leiter der Stadtbibliothek Aalen sprach mit der Autorin.

Förder- Preisträgerin: Nora Krug
Förder- Preisträgerin: Nora Krug (© Nina Subin)
  1. Ihre eigentliche Ausdrucksform ist die Illustration. Wie schwer war es für Sie, ein Buch zu machen, in dem dem Text eine der Illustration mehr oder weniger gleichwertige Rolle zukommt? 
    Für mich war die gleichwertige Gewichtung von Bildern und Text die natürlichste Herangehensweise für ein Buch, das sich mit kultureller Identität und Vergangenheitsbewältigung befasst. Unsere Erinnerung baut ebenso stark auf Bildern wie auf Worten auf, die wir mit von uns – oder auch von anderen Menschen – erlebten Momenten assoziieren. Während der Arbeit an meinem Buch habe ich oft über unser Verständnis von Erinnerung nachgedacht, über ihre fragmentarische Logik, und darüber, wie sie unsere Geschichte und Geschichten – insbesondere unsere Kriegsgeschichten – am Leben hält. Ich fand, dass der collagenhafte Charakter aus einer Mischung von Comics, Illustrationen, Fotografien und anderer grafischer Elemente dieses Verständnis am besten repräsentieren würde. Ich sehe Bild und Text in keinem hierarchischen Verhältnis, sondern als zwei sich ergänzende Elemente, die zu einer Geschichte zusammengefügt werden, die – im Falle meines Buchs – von meiner Suche nach Familie und deutscher Identität erzählt.
     
  2. „Heimat“ ist eine Familiengeschichte und damit ein sehr intimes Buch. Noch lebende Familienangehörige kommen mit ihren Klarnamen darin vor. Wie stehen eigentlich die Personen im Buch dazu, dass sie identifizierbar sind und Sie etwas sehr Privates öffentlich gemacht haben? Auch Dinge, die in den meisten Familien in der Familie bleiben?
    Ziel des Buchs war es nie, einzelne Personen für ihr Handeln zu verurteilen oder zu verteidigen, sondern zu versuchen, besser zu verstehen, was für Spuren Krieg in der Erinnerung hinterlassen kann, und wie sich diese Erinnerung über Generationen hinweg manifestiert und mit der Zeit wandelt. Natürlich war ich mir beim Schreiben bewusst, dass nicht jeder Mensch gerne die eigene Familiengeschichte öffentlich gemacht werden sieht. Aber das wichtigste Ziel eines jeden Autobiografen sollte sein, sich und anderen gegenüber ehrlich zu sein, was die Fähigkeit voraussetzt, sich von der eigenen Familiengeschichte zu distanzieren und sie in objektiverem und universellem Zusammenhang zu sehen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Ehrlichkeit und Feingefühl in der Darstellung einer Person oder Situation einen Widerspruch darstellen müssen.
     
  3. Ihrem Buch den Titel „Heimat“ zu geben ist mutig, denn in den letzten Jahren tobt in Deutschland ein Kampf um die Deutungshoheit dieses Begriffs. In manchen Kreisen ist er verpönt, andere würden ihn gerne in ihrem Sinne okkupieren und damit Fremde ausgrenzen. Warum trotzdem dieser Titel?
    Dies war eine ganz bewusste Entscheidung meinerseits und meines deutschen Verlags. Erst scheuten wir uns davor, das Buch „Heimat“ zu nennen, da es in meinem Buch um einen Versuch geht, sich der Idee einer deutschen kulturellen Identität zu nähern, und da auf der anderen Seite der Begriff in Deutschland besonders mit Hinblick auf unsere politische Vergangenheit stark vorbelastet ist. Unser Verständnis von Kultur wird stark über Sprache vermittelt, weswegen der Heimatbegriff momentan besonders stark umkämpft ist. Kein Ministerium, keine einzelne Gruppierung oder politische Partei darf alleinigen Anspruch auf diesen Begriff haben, denn Heimat muss für jeden etwas anderes bedeuten können. Heimat ist nichts Statisches, etwas also, das ausgrenzt und die Utopie einer perfekten Gesellschaft assoziiert. Kulturelle Identität hat sich schon immer im Wandel befunden. Kurz vor der Veröffentlichung des Buchs entschlossen mein Verlag und ich uns letztendlich dazu, das Buch „Heimat“ zu nennen: um zu zeigen, dass auch diejenigen Anspruch auf den Heimatbegriff haben, die ihn immer wieder kritisch hinterfragen und sich dennoch zur Heimatliebe bekennen können – diejenigen also, die sich zu Deutschland in seiner Ganzheit bekennen. 
     
  4. Das Thema Vergangenheitsbewältigung – das zentrale Thema von „Heimat“ – ist ein sehr deutsches und den Deutschen vertrautes. Wie reagieren eigentlich die ganz anders geprägten Leserinnen und Leser der englischsprachigen Ausgabe darauf?
    Für viele Leser im Ausland stellt die deutsche Perspektive auf den zweiten Weltkrieg eine ungewohnte Sichtweise dar. Jedes Land hat seine eigene Geschichtsschreibung und verwendet seine eigene Sprache, seine eigenen Bilder, um das noch immer existierende Kriegstrauma zu verarbeiten. In den USA ist die Perspektive auf den Krieg stark durch die amerikanische Literatur und durch die Bilder Hollywoods geprägt, und natürlich auch durch die Tatsache, dass viele Amerikaner ihre Familien im Holocaust verloren. Ich denke, dass vielen im Ausland die Intensität, mit der sich die Deutschen mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben, nicht bewusst ist, und Leser im Ausland scheinen sich für diesen Gesichtspunkt meines Buchs zu interessieren. Neben einer positiven Aufnahme in Deutschland, meinem Heimatland, war mir natürlich besonders wichtig, dass mein Buch die Gefühle der Opfer des Naziregimes und deren Nachkommen nicht verletzt, und dass nicht der falsche Eindruck entsteht, ich stelle die Deutschen selbst als Opfer dar. Das Gegenteil war glücklicherweise bisher der Fall, und nach Veranstaltungen in jüdischen Institutionen in Amerika, zum Beispiel, reagierten sogar Holocaustüberlebende sehr positiv und bedankten sich dafür, dass ich das Buch geschrieben habe. Obwohl dies mich als Deutsche natürlich befangen macht, bin ich auch sehr dankbar für diese positiven Reaktionen.
     
  5. Was denken Sie: Gehört Heimat zu den Dingen, die man erst dann vermisst und zu schätzen lernt, wenn man sie nicht mehr hat? Wann haben Sie die Heimat zum ersten Mal vermisst? Sie sind in Ihrem Leben schon weit herumgekommen – innerhalb Deutschlands, Sie waren in England, sie leben seit Jahren in New York. Wo ist für Sie Heimat? Oder ist Heimat eher ein Was?
    „Heimat“ ist ein Begriff, der für mich ungreifbar ist – und es wahrscheinlich auch bleiben wird, da ich bisher insgesamt 19 Jahre im Ausland gelebt habe. Ich lebe schon zu lange außerhalb Deutschlands, als dass ich behaupten könnte, Deutschland sei das Land, das mein Kultur- und Identitätsverständnis am stärksten prägt, auch wenn dies einmal der Fall gewesen ist. Für mich ist der Heimatbegriff ganz stark mit Kindheitserinnerungen verbunden: mit Spaziergängen in der Pfalz oder im Schwarzwald, mit den Liedern, die ich mit dieser Landschaft verbinde, mit Leberknödelsuppe und natürlich ganz besonders mit meiner eigenen Familie. „Heimat“ stellt für mich daher etwas dar, das nur in der Vergangenheit existiert. Eher als die Idee einer übergreifenden Heimat habe ich während meiner Auslandsaufenthalte einzelne Komponenten aus der Heimat vermisst: meine Familie, den Wald, deutsches Brot und das Schriftbild der deutschen Sprache beispielsweise.
     
  6. Das Wort Heimat wird im Deutschen fast nur im Singular benutzt. Das wird seinen Grund haben. Kann ein Mensch Ihrer Meinung nach mehrere Heimaten haben?
    Für jeden kann der Heimatbegriff etwas anderes bedeuten. Einen universellen Heimatbegriff definieren zu wollen würde bedeuten, dass alle Deutsche genau die gleiche Sozialisierung erfahren müssten, doch Heimat wird stark durch die eigene Kindheit, Familie, Generation, Schule, ein bestimmtes Bundesland oder zum Beispiel ein spezifisches Landschaftsbild geprägt. Da ich persönlich Heimat als etwas verstehe, das stark durch meine Kindheit geprägt ist, kann ich New York nicht als meine Heimat bezeichnen, eher als mein Zuhause. 


Nora Krug wurde 1977 in Karlsruhe geboren. Nach dem Abitur 1996 studierte sie Bühnen- und Grafikdesign am Liverpool Institute for Performing Arts und Illustration und Dokumentarfilm an der Universität der Künste Berlin, wo sie 2002 auch ihre Diplomprüfung ablegte. Im selben Jahr ging sie als Fulbright- und DAAD-Stipendiatin an die School of Visual Arts in New York, wo sie 2004 den Master of Fine Arts erwarb. 2005 wurde sie als Professorin für Illustration und zeichnerische Darstellungstechniken an die Muthesius Kunsthochschule Kiel berufen und kehrte nach Deutschland zurück. Zwei Jahre später folgte sie dem Ruf auf eine Professur für Illustration an die Parsons School for Design New York City, wo sie bis heute lebt. Für Ihr Erstlingswerk wird Nora Krug 2019 neben dem Förderpreis des Schubart-Literaturpreises mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet.

© Stadt Aalen, 16.07.2019